Das verlorene Meer

Jedes Jahr am 23. März trauert Bolivien um die Küste, die es einst besaß, und schwört, an den Pazifik zurückzukehren. Bis dahin übt die Marine des Binnenstaates auf dem Titicacasee.

 

Als er die Asche des toten Helden nahen hörte, prüfte Diego Bonillo Salazar sich und seine Uniform ein letztes Mal, hob sein Gewehr und verbannte jedes Gefühl, so wie er es gelernt hatte. Es fiel ihm schwer. Fahnen flatterten von den Straßenlaternen und warfen springende Schatten, überall flackerte das Licht von Kerzen in der Nacht, es war Unruhe in der Menge, schon jetzt.

Die Urne kam mit klingendem Spiel. Von Norden her drang das Dröhnen der Trommeln aus der Dunkelheit, Trompeten waren zu hören, Pauken, Hörner, Pfeifen und dazu der stolze Tritt von tausend Stiefeln, die im Gleichschritt auf das Pflaster knallten, es marschierten die ersten beiden Bataillone der Colorados de Bolivia, Infanterieregiment No.1, die Leibgarde des Präsidenten. Sie sangen. Diego Bonillo Salazar stand sogleich Habt-Acht. Sie sangen den Marsch des verlorenen Meeres.

Das Gefühl sprang Diego Bonillo an wie ein Tier. Trommelwirbel rollten über den Plaza Eduardo Avaroa im Herzen von La Paz, der größten Stadt Boliviens, schwollen an wie der Donner eines aufziehenden Gewitters, schon kam die Lafette, geleitet von vier Korvettenkapitänen mit blanken Degen, die nun eine bronzene Schatulle herab hoben, über roten Teppich zu Diego Bonilla trugen und ihm die Asche des toten Helden zu Füßen legten, zu Ehre und Wacht. Da war es Diego Bonillo Salazar, Kadett einer Marine ohne Meer, als spüre er Hitze und Kälte zugleich.

„Es ist ein Gefühl“, sagt Diego Bonillo, doch schweigt dann, nach Worten suchend. „Ein Gefühl“, sagt er schließlich, „von Trauer und Glück.“ Und sicher sei er, dass alle Kameraden der Armada Boliviana da eins seien, mögen sie am Tag der Tage auf den Flüssen des Amazonasbeckens Dienst tun oder auf denen des Hochlands, am Titicacasee oder auch an der Seite der Asche des Helden Eduardo Avaroa – am día del mar, dem Tag des Meeres, fühlten alle Seemänner Boliviens den gleichen Zwiespalt.

Die Trauer um das verlorene Meer, im Krieg geraubt vor grauer Zeit, gegen Chile wars, 1879, seitdem ist Bolivien Binnenstaat. Aber auch das Glück über Stärke und Stolz der Bolivianer, die heute noch dem Meer gedenken, im 127. Jahr des Verlustes, und an jedem 23. März vor sich und der Welt ihren Willen bekräftigen, zum Pazifik zurückzukehren.
„Was einmal unser war, wird eines Tages wieder unser sein“, spricht trotzig Diego Bonillo Salazar, Kadett zur See an der Marinekriegsschule zu La Paz, 3663 Meter über dem Meer, 310 Kilometer bis zur nächsten Küste. Er zählt zu den Alten dort, weil er, 22 Jahre alt, im letzten Jahr der Schufterei steht, die aus Jungen von Stadt und Land Offiziere zur See machen soll. Und weil er das Meer schon einmal sah.

Sein Atem flog, das Blut schlug pochend gegen seine Schläfen, aus den Augenwinkeln sah Diego Bonillo dort die Asche des Helden Eduardo Avaroa stehen, auf roten Samt gebettet, eine Urne in Form eines schmalen Sarges, die Seitenwände verziert mit aus Bronze gegossenen Lorbeerzweigen. Er verstärkte den Griff seiner Hände, schneeweiße Handschuhe an Schaft und Kolben seines Gewehrs, Marke Mauser, mit aufgepflanztem Bajonett, darf nicht zittern, darf nicht. Diego Bonillo repetierte die Ratschläge der Ausbilder für Ehrenwachen. Trinkt nicht zuvor. Geht Wasser lassen zuvor. Vergesst nicht: Bolivien schaut auf euch.
Aus dem Dunkel der Nacht schoben sich die Menschen in Massen gegen die Absperrungen, das Fernsehen übertrug live, und überall in Bolivien, von den Höhen der Anden bis zum Tiefland des Amazonasgebietes, sahen die Menschen zu, wie jedes Jahr, wenn sich das ganze Land in Erinnerung an das verlorene Meer vereint. Es war die Zeit der fünften Wache, die Stunden vor Mitternacht, der Vorabend des Tages der Tage. Auf dem Plaza Avaroa standen stramm fünf Seekadetten, starr vor Stolz.

Meeresmonat nennen sie den März im Land. Vom ersten Tag an haben Behörden nicht mehr allein die Fahne der Republik zu hissen, sondern auch den Flor des Meeres, ein blauer Wimpel, Symbol der Erinnerung soll er sein und Zeichen der Zuversicht, der Staat will es so. Und Bolivien beginnt, sich vorzubereiten.
Diesen März druckten die Zeitungen die ersten Wellen schon Ende Februar, bald folgten Bilder gischtumspülter Küsten im Fernsehen. In den Schulen setzten die Lehrer die Geschichte des Salpeterkrieges auf den Stundenplan, auf den Straßen verkauften fliegende Händler Gedenkdrucke mit Stichen alter Schlachten, und aus den Stützpunkten der sechs Marinedistrikte schwärmten Offiziere, um den Kindern Unterricht über das verlorene Meer zu erteilen: den Pazifik und jene 400 Kilometer Küste, die Bolivien früher besessen hatte – 120 000 Quadratkilometer karges Land, doch voller Salpeter und Kupfer.

Die Klage war stets gleich, eine Klage im Konjunktiv: Was hätte Bolivien sein können, hätte man es damals nicht des Meeres beraubt und damit des direkten Zugangs zu Seefahrt, Handel, Reichtum?
Bolivien, das zwar manche Häfen Perus und Chiles zollfrei nutzen kann, träumt vom Meereszugang wie von einem Wundermittel gegen die Armut des Landes, und wenngleich sich die Beziehungen zu Chile längst gebessert haben, ergeht sich Bolivien vor jedem „día del mar“ erneut in der Erinnerung an die alte Feindschaft. Auch dies gehört zu den Vorbereitungen.

Denkmäler wurden geputzt, Straßen ausgebessert, Uniformen gestärkt. Boten der Marine sprachen im Konvent der Minderen Brüder vor, um sich bei den Mönchen, die in der Gruft ihrer Basilika San Francisco außer den Überresten eines halben Dutzends Präsidenten und Generälen auch die Asche Eduardo Avaroas hüten, vom tadellosen Zustand der Urne zu überzeugen. Historiker stritten über die Frage, ob der Held der Helden sich Abaroa oder Avaroa geschrieben habe. Aus allen neun Provinzen kamen Künstler zusammen, um das eigens komponierte Lied Es posible navegar einzusingen, ein Lobpreis auf Sehnsucht und Seefahrt.
Da verschlossen sich selbst die Spötter nicht mehr jener seltsam wehmütigen Freude, mit der Bolivien dem Tag des Meeres entgegengeht, und steuerten böse Witze bei, die sogar die sonst schweigsamen Schuhputzerjungen ihren Kunden erzählten und schließlich selbst in den Stützpunkten der Marine die Runde machten.

So geschah es auch in San Pedro de Tiquina, Vierter Marinedistrikt, Titicacasee. Hier, fünf Stunden von La Paz entfernt, am Ufer des größten Sees Südamerikas, findet sich das Herz der bolivianischen Marine: ihr wichtigster Stützpunkt. Fregattenkapitän Carlos Vallejo Crespo, Herr über zwanzig Schiffe und zwei Züge Kampfschwimmer, sitzt erhobenen Hauptes im Sessel des Hafenkommandanten und darf und will und kann nicht lachen.

Es ist früh. Drei kahle Glühbirnen hängen vom Wellblechdach, auf dem Schreibtisch die Fahne der Republik und das Foto der Töchter, von der Wand wacht mit strengem Blick Simón Bolívar, der Befreier Südamerikas, der Bolivien seinen Namen gab. Aus diesem unter eine Dachschräge gezwängten Stübchen befiehlt man dem größten Kriegshafen des Landes: ein einsamer Kai, fünfzehn von Eukalyptusbäumen umzingelte Hektar Land und dazu das gewaltige, gleißende Blau des Titicacasees. Carlos Vallejo Crespo zwingt sich zu ernstem Gesicht. Er kennt den Witz.

Der, bitter und vor jedem Tag der Tage erneut beliebt, geht so: Wie zum Teufel, so fragt ein Bolivianer den anderen, schaffen wir es, endlich wieder Zugang zum Meer zu bekommen?
Nichts leichter als das, antwortet der in Geschichte studierte Gegenüber: Bolivien, das in seiner Vergangenheit drei große Kriege führte und alle drei vernichtend verlor, Bolivien, das in 181 Jahren Geschichte 189 Staatsstreiche erlebte, dieses also allein zu Niederlagen und Putschen fähige Bolivien möge einfach dem Meeresräuber Chile den Krieg erklären, ihn gekonnt verlieren, dann geruhsam ein halbes Jahr abwarten und darauf wie gewohnt gegen die neue chilenische Regierung putschen, worauf es nicht nur die Häfen des Pazifiks wiedererlangen, sondern auch den dreimal verfluchten Erzfeind besiegt haben werde.
Carlos Vallejo Crespo grinst gequält.

Er ruft die Ordonanz, beflissen kommt sie über knarzendes Parkett geeilt. Den Atlas!, befiehlt Carlos Vallejo, 46 Jahre, 30 davon Seemann, das Meer sieht er nur in den Ferien. Wenn er, wie im vergangenen Jahr, nach Peru fährt, an den Pazifik, um seinen zwei kleinen Töchtern zu zeigen, was Wellen sind. „Über unsere Geschichte“, sagt er, „scherzt man nicht.“

Der Atlas kommt, und anhand der Karten erklärt der Kommandant ein Trauma. Einst, nach der Unabhängigkeit, war Bolivien gewaltig groß, ein einig Land vom Pazifik bis tief in den Regenwald des Amazonas, jedoch mit schwachen Regierungen.

So kam Argentinien mit hinterhältigen Verträgen, 1862, verloren waren 130 000 Quadratkilometer Land in den Ebenen des Chaco Central. Dann kam Brasilien, erst mit Heimtücke, später mit Krieg, 1867 und 1903, verloren waren 51 000 Quadratkilometer im Mato Grosso und 441 000 im Regenwald Amazoniens. Dann Chile, 1879, die Küste verloren, dann erneut Argentinien mit seinen Advokaten, 1883, Puna de Atacama verloren, dann wollte auch Peru seinen Anteil, 1909, schließlich raubte Paraguay in blutigem Krieg den Chaco Boreal, nochmals 250 000 Quadratkilometer, 1935.

„Macht zusammen eine Million Quadratkilometer und paar Zerquetschte“, sagt Carlos Vallejo Crespo, schlägt den Atlas zu, schweigt. Von draußen klingen Befehle und Marschtritt. Die Marineinfanterie macht sich auf in den Morgen. Carlos Vallejo bricht sein Schweigen jäh, er schnarrt: „Aber schwerer wiegt das Meer.“

1879. Salpeterkrieg. Bolivien stand mit Peru gegen Chile, ein Häuflein schlecht ausgebildeter Soldaten gegen eine schlagkräftige Armee, es ging erst um Salpeter und dann die ganze Küste. Deswegen nennen sie die fünf Jahre Schlachten und Scharmützel bis heute nur den Krieg des Pazifiks, denn danach war Bolivien Binnenstaat. Carlos Vallejo schüttelt die Fäuste, er sucht für den Verlust des Meeres einen Vergleich, er sagt: „Das ist, als ob sie dir das Auge ausstechen oder den Arm abschlagen.“

Diego Bonillo Salazar und seine Kameraden standen stramm zwei Stunden lang, mitten im Herzen von La Paz, von Menschenmassen umgeben. Dann erst, kurz vor Mitternacht, kam die letzte Einheit marschiert, um in schimmernder Wehr vor der Asche des Helden zu defilieren.
Seit jeher beginnen sie den Tag des Meeres so: In ganzer Pracht ziehen die Streitkräfte am Abend zuvor aus, um die Asche Eduardo Avaroas aus ihrer Gruft zu holen und die Urne dann in großer Parade zum Plaza Eduardo Avaroa zu geleiten, wo sie am Fuße des Denkmals von Eduardo Avaroa die Nacht über auf den Tag der Tage wartet. „Eduardo Avaroa“, sagt Diego Bonillo, „war ein großer Mann.“

In der Schule hatte er von ihm erfahren, Diego weiß es noch – da war diese Zeichnung, ein Kerl reckte eine Flinte gen Himmel, er schrie. Diego lernte vom verlorenen Meer und dann, in einem Buch, sah er wieder jenes Bild, daneben standen, zum gewissenhaften Lernen, zwei Sätze: „Mich ergeben, ihr Feiglinge? Soll sich doch eure Großmutter ergeben, verdammt noch mal!“
Das, so lernte Diego, waren die letzten Worte von Eduardo Avaroa, als er am 23. März 1879 mit zwölf Mann und zwölf Gewehren die Brücke von Topáter gegen eine hundertfache chilenische Übermacht verteidigte, vergebens, sich aber nicht ergab, sondern lieber starb, wofür er jetzt und alle Zeit héroe máximo zu heißen habe, Held der Helden.

Es ist ein seltsamer Held, den sich Bolivien erkor: Ein Freischärler, der in einem unbedeutenden Scharmützel gleich zu Beginn des Salpeterkrieges sein Leben für eine unbedeutende Brücke im Hinterland gab, wird zum Inbegriff des Kampfes um das verlorene Meer, zu Verpflichtung und Vorbild für alle Bolivianer. Was zählt, ist das Opfer.

Seine Mutter, sagt Diego Bonillo, habe ihm abgeraten, aus Angst, er werde sich verändern. Sein Vater jedoch, selbst Offizier der Marine, habe damals schlicht gesagt: Tu es. So sei er dann eingetreten, mit 17, in die Marinekriegsschule „Vicealmirante Ronant Monje Roca“, bei klarer Sicht und Sonne haben die Seekadetten hier einen Blick bis zum Gipfel des Illimani, Hausberg von La Paz, 6439 Meter hoch. An Tagen mit schlechter Sicht und Smog aber sehen sie vom Appellplatz aus nur das Torhaus, an dem die Schule in großen Lettern ihr Motto verkündet: „Hier werden die Männer des Meeres geschmiedet.“

Keinen Augenblick lang marschiert die Marineinfanterie im Kriegshafen am Titicacasee, da befiehlt eine durchdringende Stimme ein Lied. Kommandant Carlos Vallejo Crespo horcht auf. Schnell schnappt er sich seine Schirmmütze, stiefelt die Treppe hinab. Vor ihm liegt still und stattlich der See – eine weite, bis zum Horizont reichende Fläche von prächtigem Blau, in dem sich die Sonne spiegelt. Am Himmel ziehen die wenigen Wolken zum Greifen nah über das von Wellen kaum bewegte Wasser, und wären die Berge rundherum nicht, der See sähe aus wie ein Meer. Am Ufer singen die Soldaten im Gleichschritt.

Voran, Bolivianer, voran / auf zum Meer /
das Vaterland verlangt zurück / die in Ketten gelegte Küste.

Der Marsch des verlorenen Meeres. Er geht Carlos Vallejo gleich ins Gemüt. Der Kommandant lächelt, strafft sich, geht bedächtig die Marschkolonne ab. Er liebt dieses Lied. Sie lieben es alle. So ist es Tradition. Und nichts zählt mehr in der Marine Boliviens als: Tradition.

Als Diego Bonillo Salazar in die Marine eintrat, wurde er zum Affen. So nennen sie in der Marinekriegsschule die Neuen, wissen nichts, können nichts, sind nichts. Sie nahmen ihn und brachen sein altes Selbst, erste Stufe. Kein Telefon, kein Kontakt, gleich am ersten Tag war es so schlimm, dass Diego in der Nacht das Kissen auf seinen Kopf drücken musste, damit sie ihn nicht weinen hörten. Dann drillten sie ihn stumpf, zweite Stufe. Keine Ruhe, keine Gnade, ein Fehler nur, sofort kam Strafe. Danach schliffen sie ihn sich scharf, dritte Stufe. Am Ende des ersten Jahres waren sie in Diegos Klasse nur noch 80, mit 135 hatten sie angefangen.
Am Ende diesen Jahres werden er und die 42 anderen, die es bis hierhin geschafft haben, zu Caballeros Oficiales ernannt werden, zu Offizieren und Ehrenmännern. Ja, sagt Diego Bonillo, seine Mutter habe schon recht gehabt: „Ich habe mich verändert.“ Aber auch sein Vater habe recht behalten. „Jetzt“, sagt Diego Bonillo Salazar, „bin ich ein Mann.“

Wenn Carlos Vallejo Crespo und sein Kriegshafen am Titicacasee erwachen, geschieht dies: Im Morgengrauen rufen Bootsmannspfeifen alle Mannschaften und Offiziere an Deck, so heißt das Antreten hier, als befände man sich an Bord eines Schiffes und nicht auf einem Appellplatz an Land, und am Mast an der Mole steigt die Fahne der Republik in der Version der Marine empor: Sie flaggt ebenfalls Rot, Gold, Grün, aber nur in einer Ecke der Fahne, der Rest ist blau wie das Meer. Wenn Carlos Vallejo am Abend Zapfenstreich befiehlt, geschieht dies: Die Offiziere treten in die Schlafbaracken aus brüchigem Beton und rufen: „Es lebe Bolivien!“, worauf die Mannschaften gellend antworten: „Zurück zum Meer!“

Die Zeit dazwischen misst die Marine in Glas und Wachen, den alten Zeiteinheiten auf Schiffen, spricht auch sonst die Sprache der Seefahrt, als lebte sie tatsächlich auf See, übt sich im Kämpfen und Schwimmen und Navigieren und in einer unüberschaubaren Menge an Ritualen, als gelte es das fehlende Meer durch die Macht der Zeremonien zu ersetzen: Die Seekadetten erheben ihre Gläser zum Trinkspruch nur mit kniffligen Griffen, an denen Eingeweihte ihren Rang zu erkennen vermögen; die neu gekürten Offiziere pflegen ihre Degen aus dem fernen Solingen kommen zu lassen, und wenn die alten Mannschaften ihre Papiere erhalten bei der Entlassung, sind diese wie jedes einzelne Schriftstück, das die Streitkräfte Boliviens verfassen, zwei Mal unterzeichnet: einmal mit der Unterschrift des Autors und einmal mit der Parole „Das Meer gehört uns zu Recht, es wiederzugewinnen ist eine Pflicht.“

Am Tag der Tage dann, am día del mar, es war zwei Glas in der ersten Wache, fünf Uhr früh, kam das Signal zum Wecken, und Diego Bonilla Salazar schien es, als habe er sich gerade erst in das karge Stahlgestell gelegt, das seit fünf Jahren seine Schlafstatt in La Paz ist. Bis Mitternacht hatte er gewacht an der Asche Eduardo Avaroas. Diego Bonillo legte den Uniformrock sorgfältiger noch als gestern an, am Ärmel fünf Streifen, für jedes Jahr einen. Gestern war Auftakt nur. Aber heute.
Als dann die Sonne in den Himmel stieg, wachte Diego Bonillo Salazar bereits wieder an der Asche Eduardo Avaroas. Militärpolizisten umstellten ihn, sperrige Männer in Schwarz, die mit ihren gepanzerten Körpern und Kampfhelmen aussahen wie große, des aufrechten Ganges fähige Käfer. Diego Bonillo ging an seine Aufgabe. Sie hatten ihn heute zum Adjutanten der Ehrenbezeugungen gemacht, zuständig für die Tränen.

Carlos Vallejo Crespo, Kommandant am Titicacasee, sitzt vor sturmgepeitschtem Meer, ein buntes, schrilles Gemälde, in dem ein Klipper gegen Wind und Wellen kämpft, hinter dem Steuermann, überlebensgroß, wacht Christo Marinero: Gottes Sohn selbst greift helfend ins Ruder. Hier bittet Carlos Vallejo seine Offiziere zu Tisch.

„Wir halten uns in jedem Augenblick bereit, wieder zur See zu fahren“, sagt er. „Und wir werden wieder zur See fahren, bei Gott.“

Wann?

„Morgen. Übermorgen. Oder erst in 100 Jahren. Egal“, knurrt der Kommandant. „Wir werden zu den Häfen des Pazifiks zurückkehren.“

Parolen wie diese kennt die Marine Dutzende, und in ihrem größten Kriegshafen finden sie sich alle. Sie schreiben sie an die Wände und schneiden sie in die Hecken; am Morgen singen sie die Marineinfanteristen, am Mittag die Abteilungen der Militärpolizei, am Abend, in den Kojen, dann alle – die Botschaft soll unmissverständlich sein: Armada Boliviana, allzeit bereit.

Es gibt Bolivianer, die sagen, der Marine sei die Trauer um den Verlust des Meeres wichtiger als das Meer selbst. Sie spotten, die ganzen Sitten und Bräuche seien Salzwasserfetische, und erst recht ihr Höhepunkt, der día del mar. Sie höhnen, die Armada Boliviana, gegründet 1963, sei eine Spielzeugmarine.

Wenn Carlos Vallejo Crespo von Salzwasserfetischen liest, gerade erst stand es in der Zeitung, ausgerechnet zum Tag der Tage, dann packt ihn Zorn. „Da brodelt es in mir“, sagt er. Spielzeugmarine! Er schnaubt. Draußen am Kai liegen ein halbes Dutzend Kriegsfähren und ein Patrouillenboot der Piraña-Klasse, fast sieben Meter lang und schnell wie die Wut, außerdem befiehlt er noch zwei schmalen Flussschnellbooten und sogar einem richtigen Schiff: Die „Julian Apaza“, ein Hospitalschiff, ist der Stolz der Dritten Flottille. „Wir spielen hier nicht“, sagt Carlos Vallejo. Er hasst diesen Spott. Er erinnert ihn an früher.

Die Tränen kamen in stetem Fluss, Diego Bonillo Salazar empfing sie auf dem Plaza Eduardo Avaroa in La Paz mit verhaltenen Gesten, er hatte seinen Stolz wohl verborgen. Zuerst brachten die Schüler, Studenten und Beamten ihre Tränen, Diego Bonillo griff in Engelstrompeten, Hundsrosen, Rittersterne, lauter Tränen.

Denn Tränen, so hatte das Protokoll festgesetzt, haben die Blumengebinde zu heißen, mit denen Bolivien der Asche Eduardo Avaroas die Ehre erweist, streng sei das Zeremoniell zu befolgen, Gefangenes Meer, du wirst immer unser Meer sein.
Soldaten standen Spalier, das Symphonieorchester der Stadt spielte Leises, aus großen Lautsprechern drang dunkel eine Stimme, Das Meer ist der Weg zu Freiheit und Wohlstand.

Diego Bonillo hatte als Adjutant die Abordnungen der Bürgermeister, Minister, Botschafter zu begleiten, ihre Tränen vor der Urne niederzulegen, schneidig zu salutieren, und er tat es, drei Stunden lang, Bolivianer, lasst uns zum Meer zurückkehren, er bückte und bückte sich, bis er jede neue Träne im Kreuz spürte, Über den Häfen des Pazifiks werden wieder die Farben Boliviens wehen, bis ihm schien, er schwitze stark und sichtbar, Bolivianer, gedenken wir unserem Meer heute und alle Tage, bis sich seine Uniform schließlich wie ein Käfig anfühlte.

Die Ausbilder hatten sie vor diesem Moment der Müdigkeit gewarnt. Also tat Diego Bonillo Salazar, wie ihm geheißen worden war. Er dachte an den schönsten Moment seines Lebens.

Als er den Spott kennenlernte, war Carlos Vallejo Crespo noch nicht Kommandant am Titicacasee, sondern ein junger Leutnant und hatte gerade sein erstes Kommando bekommen: ein winziger Flusshafen nahe der Grenze zu Brasilien, tief im Regenwald, umgeben von aberhunderten Kilometern undurchdringlichem Grün. Die Schiffe waren Kanus, die Kommandantur ein Holzhäuschen und Carlos Vallejo Befehlshaber über neun Matrosen und ein Gebiet von solchem Ausmaß, dass man mit dem Boot einen ganzen Tag brauchte bis zur nächsten größeren Siedlung.

„Als Hafenkapitän“, sagt Carlos Vallejo, „bist du dort Priester, Arzt, Polizist, Richter, du bist Bruder, du bist Vater, du bist alles. Ich war die höchste Autorität.“ Aber es gab die Brasilianer. Sie machten gerne Scherze über die traurige Marine ohne Meer am Ufer gegenüber. Carlos Vallejo ließ dann die Boote bemannen und sie fuhren rüber, die Sache regeln, mit einer Partie Fußball. Sie gewannen immer. „Mussten wir ja“, sagt Carlos Vallejo, „es ging um unsere Ehre.“

Auf dem Plaza Eduardo Avaroa holte Diego Bonillo Salazar aus seiner Erinnerung, was bisher das Schönste war in seinem Leben, noch vor den Heimsiegen der Jungs von „Club Bolívar“, im Fußballstadion unterhalb seines Vaterhauses, noch vor den kostbaren Abenden ohne Dienst, an denen er mit seiner großen Liebe Ivana cortavenas hörte, Venenschlitzer, so nennen sie Liebeslieder, die zum Sterben traurig sind, ja sogar noch vor dieser Liebe zu Ivana selbst.

Es war im dritten Jahr. Sie waren im Dunkeln angekommen, tiefe Nacht, es war wohl Anfang erste Wache, sie blieben gleich auf, 35 Mann. Sie hörten das Signal, sie spürten das Zittern, sie waren schon fast draußen, als die Sonne kam, der Fluss wurde breiter und immer breiter, links und rechts zogen sich die Ufer des Río de la Plata zurück, alle standen am Oberdeck, alle 35 Mann, und da war es, das Meer.
Es fauchte sie an.

Sie spürten es, alle. Diese Wucht. Das Schiff schüttelte sich in den Wellen, und dazu der Atem des Meeres, es war ihnen, als spürten sie alle acht Winde auf einmal, und wenn das Schiff ihr Schiff gewesen wäre und nicht eine Leihgabe der argentinischen Marine, wahrscheinlich wären sie sofort abgehauen, hinaus in die Weltmeere, aber da ist sich Diego Bonillo nicht sicher. Sicher ist er nur, dass sie alle weinten, alle 35 Mann. Das war das Schönste. Daran dachte Diego Bonillo Salazar.

Viele Kommandos waren seitdem sein, Carlos Vallejo Crespo befehligte Boote, Häfen, Schiffe. Heute ist er alt, erfahren, Kommandant am Titicacasee, seit 30 Jahren Seemann, und wenn er das Meer besuchen fährt, in den Ferien, dann stellt er sich, nur so eine persönliche Sache, gleich nach Ankunft in die Fluten und grüßt die ganze Weite da draußen. Er frage seinen Freund dann, sagt Carlos Vallejo, wie es ihm gehe, denn so fühle er sich im Angesicht des Meeres: „Wie wenn ich einem alten Freund begegne, lange nicht gesehen.“

Am Ende aller Tränen trat auf den Plaza Eduardo Avaroa der ehrenwerte Präsident der Republik. Diego Bonillo Salazar sah, wie der Präsident seine Träne niederlegte, die letzte.
Nun fühlte er sich nicht matt noch müde, ganz schnell ging alles: die Lafette kam, Schellenbäume marschierten voran, dann Armee, Luftwaffe, Marine, und am Himmel jagte eine Rotte Kampfbomber voraus, die Asche des toten Helden zu geleiten, zurück zur Gruft in der Basilica San Francisco, tausend Soldaten standen dort bereit.
Kanonen schossen Salut.
Kinder ließen Tauben steigen.
Der Präsident sprach.

Er sprach von Erinnerung, Rechtsanspruch, Zuversicht. Von den Stränden des Pazifiks. Da begann es zu regnen. „Meer!“, rief der Präsident. „Meer für Bolivien!“

Dann begannen die Soldaten zu singen.
Voran, Bolivianer, voran /
Auf zum Meer.

 

Foto: Claudine Doury

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