Die Botschaft der Großen Brüder

Die kolumbianische Sierra Nevada ist das Herz der Welt. Das glauben ihre Bewohner, die Arhuaco, Wiwa und Kogui. Stolz haben sie den Kontakt zu den „Kleinen Brüdern“, wie sie alle anderen Menschen nennen, gemieden. Jetzt aber steigen sie mit einer Warnung an die Welt aus den Bergen herab

 

Er steigt wie beflügelt bergan, seine Füße kosten jeden Flecken Erde, Gras und Fels. Jeder Schritt trägt ihn weiter fort von der Welt der Kleinen Brüder, wo der Boden fliesenglatt und betonkalt war. Jeder Schritt führt ihn höher in die Berge, wo seine Füße Heimat fühlen, grasweich oder schlammwarm oder steinspitz. Er geht barfuß. Er will es nicht anders.
In der großen Stadt hatten sie ihm vor Tagen zu verstehen gegeben: Schuhe, guter Mann, Sie sollten besser Schuhe tragen! Seine Gefährten übersetzten es ihm. Er schwieg. Höflich gingen seine beiden Gegenüber, Beamte des kolumbianischen Staates, über seine Reaktion hinweg.
Später, als jeder den jovialen Ratschlag längst vergessen hatte, wandte er sich unversehens an die Beamten. Seine Stimme war dumpf, wie unter Wasser sprach er. Das kam vom Koka, das er kaute. Seine Gefährten übersetzten. „Mamo sagt: Wie könnte ich in Schuhen die Erde spüren, Kleine Brüder? Wie könnte ich fühlen, wo ich bin?“
Er geht an der Spitze des Zuges, allen voran. Leichtfüßig erklimmt er die Hänge, ein kleiner Mann unbestimmbaren Alters, auf dem Kopf eine spitze Mütze, geformt wie ein Gipfel. In flüchtigen Momenten, wenn die Erschöpfung alle außer ihn zum Atemholen zwingt, sieht es aus, als flöge er über das Geröll.

Er heißt José Shibulata Zarbata. Das ist nicht sein wahrer Name, den nennt er nicht. Schon gar nicht vor Kleinen Brüdern. Die müssen mit dem Namen vorliebnehmen, der nach ihren Regeln gebildet ist, Vatername, Muttername und davor ein Kindsname wie José, den er nur angenommen hat, damit dem Gesetz Genüge getan sei. Seinen wahren Namen empfing er bei der Geburt, als ein Schamane seine Bestimmung sah und sie in ein passendes Wort goss: Ein Mamo würde er werden – ein Hüter der Welt, damit betraut, das Gleichgewicht zu bewahren.

Seit drei Tagen führt Mamo Shibulata sein Gefolge in jenes Gebirge, das sein Volk Heimat nennt: die Sierra Nevada de Santa Marta in Kolumbien. Gleich hinter den Ufern der Karibik gelegen, ragen ihre Gipfel 5775 Meter auf; sie sind höher als die kolumbianischen Anden, aber keine 45 Kilometer vom Meer entfernt. Wie ein Fremdling erhebt sich die Sierra Nevada an der flachen Küste, Gulliver-gleich, zu groß geraten für die Landschaft ringsum. Das Gebirge gibt einem Leben Raum, das ebenfalls aus der Welt gefallen zu sein scheint: Wachspalmen, Reisratten, Musketier- Kolibris mit Schnäbeln wie Degen. Amtlich verbrieft ist die Einzigartigkeit seit 1979, damals ernannte die UNESCO die Sierra Nevada zum Biosphärenreservat. In der Beschreibung betonte man die Existenz von fast 30 000 Ureinwohnern. Das Dokument hebt drei Völker hervor: Arhuaco, Wiwa und Kogui.
Die Großen Brüder.

Der Pfad, dem Mamo Shibulata folgt, ist ein schmaler Saum, der sich durch Geröllfelder und Sumpfwiesen zieht. Es ist karges Land. Alles, was wächst, duckt sich dazu an einen Fels, in eine Spalte, hinter eine Böschung. Die wenigen Bäume sind Krüppel, gebeugt vom Wind. Auf ihrer Borke sitzt dicht das Moos; es sieht aus, als trügen sie Fell. Mamo Shibulata hält inne. Er tritt zu einem schroffen Fels, der sich abseits des Weges erhebt. Er sagt etwas. Eine Erregung fährt in seine Gefährten. Jemand übersetzt.
„Mamo sagt: Wir sind nah. Ich muss nun um Erlaubnis bitten.“ Wie ein Maler vor seinem Werk streift Mamo Shibulata um den Fels, ihn wortlos betrachtend. Dann, das Gesicht zum Gestein, lässt er seine Hand in einen der Tragebeutel fahren, die er kreuzweise über den Schultern hängen hat, holt etwas hervor, legt es nieder. Zeit vergeht. Niemand spricht. Dann wendet sich Mamo Shibulata um; er mustert, was er mit sich bringt. 17 Große Brüder, jedes Volk der Sierra Nevada hat Vertreter entsandt. Sechs Maultiere. Eine Filmkamera. Und zwei Kleine Brüder: die GEO-Reporter. Dann spricht er. „Mamo sagt: In diesem Augenblick breche ich die Prinzipien. Das ist nicht gut. Aber ihr müsst die Botschaft hören. Deswegen dürft ihr die Mutter Lagune sehen.“

Die Reise hatte eine Woche zuvor begonnen, in Bogotá, an einem Tag voller Sonne, die alles blitzen und blinken ließ. Mamo Shibulata saß im Fernsehraum einer kleinen Pension in der Altstadt. Vom Bildschirm gewitterte Mündungsfeuer. Ein Actionfilm. Er betrachtete ihn mit einem ausdruckslosen Gesicht, in dem manche mildes Interesse gelesen hätten, andere dagegen die dumpfe Abwesenheit eines Mannes, der offensichtlich aus der Wildnis kam. Sein schwarzes Haar fiel wirr auf seine Schultern, er trug eine weiße Tunika, und auf seinen Lippen lag eine gelbgrüne Kruste aus Speichel und dem Saft von Kokablättern. Er war eine Erscheinung, die Menschen ihre Mobiltelefone zücken ließ, um ein Bild von ihm zu machen: ein echter Indianer!
Nie zuvor war Mamo Shibulata in die Stadt gereist, die Welt der Kleinen Brüder war ihm fremd. Er war nur hier, weil er einen Auftrag zu erfüllen hatte, dessen Dringlichkeit ihm keine Wahl ließ. Er sollte die Kleinen Brüder warnen.
Um ihn herum saßen seine Gefährten, eine Gruppe junger Männer, eigens von den Mamos aller Völker erwählt. Sie nannten sich nach einem Sinnspruch Zhigoneshi: Wir helfen uns gegenseitig, um allen zu helfen. Sie, die Spanisch sprachen, die schon bei ihrer Geburt für diese Aufgabe bestimmt waren, sollten die Botschaft der Mamos für die restliche Welt begreifbar machen. Sie waren vorbereitet. Alle hatten eine Zeit lang in den Städten rund um die Sierra Nevada gelebt und sich dort angeeignet, was sie von der Technik der Kleinen Brüder als brauchbar erachteten. Videokameras, Mikrofone, E-Mails waren ihnen vertraut. Sie besaßen zwei Mobiltelefone und den Scharfsinn dazu, für jeden Anruf eine Guthabenkarte des jeweils günstigsten Netzbetreibers einzulegen. In den Zeitungen des kriegszerrütteten Landes verstanden sie wie alteingesessene Kolumbianer doppelt zu lesen – was schwarz auf weiß geschrieben stand, aber auch, was weggelassen worden war und warum. So kundig waren die Zhigoneshi in der Welt der Kleinen Brüder geworden, dass die jüngsten gern wetteiferten, welches ihrer Idole schlagkräftiger sei, Bruce Lee oder Jackie Chan. An ihrem Äußeren sah man von alldem nichts.
Ihr Haar war lang und wild, wie Mamo Shibulata trugen sie Tracht: weite Überwürfe aus weißer Wolle und darüber zwei kunstvoll geknüpfte Tragebeutel, in denen sie ihren poporo aufbewahrten, das Symbol des erwachsenen Mannes – eine mit Kalkstaub gefüllte Kalebasse, in der ein langer Stab stak.
Gemeinsam saßen sie rund um den Mamo, die Augen aufs Fernsehen gerichtet. Ab und an stieß einer den Stab tief in seine Kalebasse, stocherte kurz und schob dann die mit frischem Kalk bedeckte Spitze in den Mund. Dort mit Kokablättern vereint, löst er Alkaloide aus dem Pflanzensaft, die anregend wirken, wie starker Tee. Wenn der Stab grün von Kokaspeichel wieder aus dem Mund kam, rieben sie ihn gedankenverloren am Hals der Kalebassen – eine Geste von großer Gelassenheit. Dann kam die Nachricht, man werde sie vorlassen.

Der Empfang im Museo del Oro war stattlich. Auf den Treppenstufen des Goldmuseums von Bogotá, weltberühmt für seine Sammlung präkolumbischer Kunst, warteten fünf Wachmänner, die Museumsdirektorin und eine Archäologin. Die Direktorin breitete die Arme aus und betonte, wie sehr sie sich freue, dass Mamo Shibulata gekommen sei. Leider sei sie außerstande, sich seines Anliegens persönlich anzunehmen, wichtige Termine. Aber man solle unbedingt in Kontakt bleiben. Mamo Shibulata entgegnete nichts.
An seiner Stelle antwortete Amado Villafaña, der Wortführer der Gruppe Zhigoneshi. Die Mamos, sagte er, seien in Sorge. Seltsames geschähe in der Sierra Nevada, es gäbe Anlass zu Angst. Daher hätten die Mamos den Auftrag erteilt, eine Botschaft an die kleinen Brüder zu senden; das Gleichgewicht sei in Gefahr. Außerdem hätten sie angeordnet, in den Museen nach Gegenständen zu suchen, die dem Gleichgewicht fehlen könnten. Die Direktorin verwies auf ihre Archäologin, reichte rasch Hände und verschwand.
Die Archäologin eskortierte die ihr Anvertrauten in die Vergangenheit, II. Stock, Abteilung „Das Volk und das Gold“, 100 bis 900 n. Chr. Die Nahuange-Periode in der Sierra Nevada.
Strahlendes Licht flutete ein langes Spalier aus übermannshohen Schaukästen. An spinnenbeindünnen Drähten waren Artefakte aller Arten aufgehängt, Vögelhäupter, Armreifen, aus Gold getriebene Frösche und Schlangen. Alles war aufs Genaueste bezeichnet und ausgeleuchtet.

Mamo Shibulata stand regungslos vor dem Sicherheitsglas. Seine Gefährten richteten ihre Kamera auf ihn. Die Archäologin beeilte sich, die Ausstellungsstücke auszudeuten. Man sehe hier höchste Kunstfertigkeit, gerade bei Grabbeigaben, schon kündige sich der Übergang zur Tairona-Periode an. Mamo Shibulata holte seinen poporo hervor und begann, Koka zu kauen.
Seine Worte kamen plötzlich. Die Gefährten bemühten sich, zu übersetzen, doch der Fluss seiner Rede schien ihre Gedanken fortzuspülen. Wie gebannt lauschten sie ihm, nur noch bruchstückhaft dolmetschend: „Die Sonne verwandelte sich in eine schwangere Frau. Das geschah, bevor die Dinge Namen trugen. Neun Ebenen bis zum Gipfel erhalten das Gleichgewicht.“
Mamo Shibulata schritt nun die Schaukästen entlang, berührte das Sicherheitsglas. Fasziniert ließ ihn die Archäologin gewähren. Sie drängte seine Gefährten, zu übersetzen. Der Mamo, sagten diese, erkläre nur, wie die ausgestellten Dinge den Regen, die Krankheiten und den Wind im Gleichgewicht halten können. Dann richtete Mamo Shibulata seine Rede an die Archäologin. „Mamo sagt: Niemand hegt all diese Gegenstände. Niemand nährt sie. Warum haben die Kleinen Brüder sie hinter Glas gesperrt?“
Die Archäologin lächelte diszipliniert. Alle diese Gegenstände seien in Gefahr gestanden, für immer verloren zu gehen, sagte sie. Das Museum bewahre sie deswegen auf. Es handle sich um Menschheitserbe.
Mamo Shibulata schien ihre Worte zu erwägen, bevor er antwortete. „Mamo sagt: Wir danken euch, dass ihr diese Gegenstände behütet habt. Nun aber müssen sie heimkehren.“
So einfach sei das nicht, sagte die Archäologin.
Kurze Zeit später war der Besuch beendet. Niemand mochte von einem Misserfolg reden.

Längs des Weges liegt jetzt wüstes Land. Die Berghänge sind kahl, wie vernarbte Wunden ziehen sich die Bahnen von Gerölllawinen durch den Stein. Mamo Shibulata folgt einem schmalen Flusslauf, der sich, im grellen Gebirgslicht schimmernd wie eine silbrige Schneckenspur, zu einer Felsnase am Ende des Tales windet.
Der Mamo erreicht den Fels als Erster. Er wartet. Bei jedem, der eintrifft, betrachtet er das Gesicht, um die Reaktion auf das zu lesen, was jetzt zu sehen ist. Von der Felsnase jedem vorschnellen Blick entzogen, liegt ein See. Sein Wasser glitzert. Die Sonne zupft an den zierlichen Wellen, die still über den See gleiten. Das Wasser ist klar, bis in die Tiefe reicht die Sicht, wo sich Wälder von Unterwasserfarnen wiegen.
Ehrerbietig treten Mamo Shibulata und seine Gefährten ans Ufer. Jeder greift sich eine Handvoll Kokablätter aus seinem Tragebeutel, lässt sie in den geöffneten Beutel seines Nächsten fallen, hält darauf den eigenen Beutel auf und empfängt seinerseits. So geht es reihum. Zhigoneshi. Wir helfen uns. Du hilfst mir.
Als alle getauscht haben, streut Mamo Shibulata etwas Koka in den Wind. Spuckt einen Batzen zerkaute Blätter in den Kies, redet. „Mamo sagt: Das ist Kogdziwa, die Lagune. Sie ist die Mutter aller Seen. Hier wird das Wasser geboren.“ Er gibt einen Befehl. „Mamo sagt: Nun dürfen wir essen.“ Sie hatten seit der Nacht gefastet.
Mamo Shibulata sitzt abseits, den Blick über den See gerichtet. Er will nicht sprechen. Er bereite sich vor, erklären seine Gefährten. Er müsse bezahlen.
Wofür?
Für das Wasser.
Für das Gleichgewicht.
Für die Filmkamera und die beiden Kleinen Brüder, die er mitbringt.

Seit Anbeginn der Zeit muss der besondere Charakter der Sierra Nevada auf ihre Bewohner gewirkt haben. So einzigartig die Berge in der Landschaft stehen, als so einzigartig begreifen sich auch die Menschen, die in ihnen lebten.
Ihrem Glauben nach war am Anfang alles Geist. Alles war bereits gedacht, jeder Baum, jedes Tier, jeder Stein und alles, was jemals sein würde, war schon angelegt, war Geist – aluna. Am Ausmaß dieses Wortes sollte das Verständnis von Missionaren und Wissenschaftlern gleichermaßen zerschellen.
Wer aluna sagt, schlägt einen Akkord an, in dem viel klingt und mehr noch nachhallt: Aluna ist Geist und Anfang, Essenz und Prinzip, Kosmos und Mutter. Aus aluna leitet sich ab, was die Arhuaco, Wiwa und Kogui nur „Das Gesetz“ nennen: ein komplexes Gleichgewicht gegenseitiger Abhängigkeiten, begründet im gemeinsamen Ursprung aller Dinge. Denn wie ein ausbrechender Vulkan aus dem Meer auftaucht und Land aufschüttet, so tauchte die Welt einst aus aluna auf. Die erste Spitze, die sich aus Geist ins Stoffliche schob, war Gonawindua – der höchste Gipfel der Sierra Nevada.
Dieses Gebirge, so glauben seine Bewohner, ist das Herz der Welt. Sie selbst, glauben sie, sind die ersten Menschen.

Der Glanz ihrer Kultur zeigte sich früh im Umgang mit Gold. Eine Schrift aber kannten die Völker der Sierra nicht. Die Forscher späterer Zeiten haben deshalb Definitionen in das Dunkel ihrer Geschichte gestanzt, die nach archäologischen Funden benannt waren: Nahuange-Periode, 100 bis 900 n. Chr.; Tairona-Periode, 900 bis ca. 1600 n. Chr.; abschließend: Niedergang infolge der Kolonisation Südamerikas.
Die Chroniken der Spanier verzeichneten vor allem Gold. Am Rande vermerkte man die Existenz einer mächtigen Priesterkaste, eine überaus nützliche Angst vor Bluthunden und 1599 noch einen Aufstand im Hinterland Santa Martas. Danach verliert sich die Spur. Gerüchten nach gab es im Gebirge noch Grüppchen versprengter Wilder, der Missionierung nicht wert.
Die ersten Menschen hatten sich dorthin zurückgezogen, wo alles seinen Anfang genommen hatte: an das Herz der Welt. Dort harrten sie aus.

Als ein Jahrhundert später Mönche auf der Suche nach Gottlosen die Aufmerksamkeit wieder auf das Gebirge richteten, meldeten sie ihren Oberen eine zähe Widerspenstigkeit: Zwar nähmen die Indianer durchaus Pfarrer an, allerdings nur, wenn sie den einflussreichen Schamanen, Mamos genannt, nicht in die Quere kämen. Erste Völkerkundler, Anfang des 20. Jahrhunderts von derlei Berichten angelockt, meldeten entzückt, die Eingeborenen der Sierra Nevada wirkten wie aus einer anderen Zeit; die wissenschaftliche Arbeit mit ihnen sei allerdings eine Folter.
Wie eine Schnecke in ihr Haus hatten sich die Arhuaco, Wiwa und Kogui ganz in das Gedankengebäude ihres Glaubens zurückgezogen.
Sie waren wenige – aber die ersten Menschen. Sie waren von Fremden gedemütigt – aber von den Göttern gesegnet. Sie waren an Waffen unterlegen – aber im Geist unübertroffen.
Eine Gesellschaft entstand, die zur Gewissheit ihrer Größe keine Gegenüber brauchte.

Die Anthropologen, die sich aufmachten, die Völker der Sierra zu erforschen, sahen sich herausgefordert. Die Worte dieser Menschen schienen doppelten Boden zu haben: Alle Dinge existierten in zwei Ebenen, im Hier und in aluna; ein Gedanke vermochte die gleichen Auswirkungen auf die Wirklichkeit zu haben wie eine Tat. Im Dickicht dieser Glaubenswelt erkannten die Forscher nur eines schnell: die Macht der Mamos.
Sie allein wussten. Sie erklärten aber wenig.
Dazu kam, dass die Mamos jedes Festhalten ihres Wissens verstörte: Wie wolle man verstehen, was ihre Worte bedeuten, wenn man sie lediglich aufschrieb? Was ein Mamo sage, sei überhaupt nicht zu erfassen, wenn man dazu nicht mit allen Sinnen aufnehme, was zu seiner Rede gehöre: das Wetter an jenem Tag, der Wind zu dieser Stunde, der Geschmack des Koka, die Beschaffenheit des Bodens, das schabende Geräusch der poporos und, daran erkennbar, die Stimmung der Zuhörenden.

Jeder Gipfel, jeder Fluss, jeder Stein schien für die Völker der Sierra beseelt zu sein. Was darin wohnte, war verwoben mit allen anderen Steinen, Flüssen und Gipfeln. Anthropologen erfuhren, dass innerhalb dieses Geflechts für alles Ausgleich geleistet werden müsse, für einen verflogenen Gedanken ebenso wie für gesammeltes Feuerholz.
Als Lehnwort für diese Tätigkeit hatten die Völker der Sierra pagamento gewählt, Bezahlung. Die Gesetzmäßigkeiten dahinter blieben unergründlich.
Quell des Stolzes war den ersten Menschen, was die Mamos aus ihrer so außerordentlichen Herkunft abgeleitet hatten: Die Götter mussten sie für Großes vorgesehen haben. Die Arhuaco, Wiwa und Kogui konnten nur zu einem Zweck auf der Welt sein – als Hüter des Gleichgewichts.

Unter allen Rätseln erschien den Forschern dieses Konzept das kniffligste. Es trotzte jeder Deutung. Immer, wenn jemand eine Gewissheit darüber gewonnen zu haben glaubte, erklärte ein Mamo, es könne aber auch ganz anders sein – das sei für „Bonachi“ schwer zu verstehen. Das Wort Bonachi, lernte man, meint gleichermaßen: ohne Gesetz, auf gut Glück geboren, wie jedwedes Kraut, von weißer Hautfarbe, zivilisiert. Alle Menschen von außerhalb der Sierra waren Bonachi. In die Bonachi-Sprache Spanisch ist das Wort mit hermanos menores übersetzt, Kleine Brüder.
Aus diesem Begriff entsprang das Verständnis, auf das sich die Wissenschaftler schließlich einigten: Arhuaco, Wiwa und Kogui empfinden sich als Große Brüder, von den Göttern selbst auf die Sierra Nevada gesetzt, um als Hüter allen Lebens zu dienen. In dieser Beschreibung sahen sich die drei Völker zwar erkannt, aber nicht verstanden. Anders konnten sie sich nicht erklären, warum die Kleinen Brüder keine Anstalten machten, den Weisheiten der Mamos Folge zu leisten.

Dann kamen die Jahre, in denen Kolumbien sich einen Krieg züchtete, der keine Fronten kannte, sondern nur grenzenlosen Totschlag. Die Regierung, die im Irrwitz dieser Zeit ab Mitte des 20. Jahrhunderts ihre Gewalt im unzugänglichen Gebirge ohnehin kaum ausüben konnte, wies weite Teile der Sierra als Reservate aus, in denen Natur und Indianer sich selbst überlassen sein sollten.
Die Grabräuber und Drogenhändler, die in der Sierra Nevada kein Herz, sondern ein Gewerbegebiet sahen, betrachteten die Eingeborenen nun als auszumerzendes Geschäftshindernis. Den verschiedenen Gruppen der Guerilla gefiel das Gebiet der Großen Brüder, um untereinander die aktuelle Version der Freiheit auszuschießen.
In Reaktion darauf rückten ihre Widersacher ein, Paramilitärs, die mit vorgehaltener Waffe prüften, ob die Mamos statt an ein Gleichgewicht nicht vielleicht doch an den Kommunismus oder andere verbotene Ideologien glaubten. Die meisten Menschen, die rund um das Gebirge lebten, sahen die Völker der Sierra jedoch schlicht als Spinner.

Die Arhuaco, Wiwa und Kogui schotteten sich ab, so gut es ging. Es ging nicht gut. Man litt. Ins Übermaß brachten das Leid Berichte aus dem Páramo, der höchsten und heiligsten Zone der Sierra Nevada: Auf den Gipfeln schwand das Eis. Pflanzen schlugen Wurzeln, die in der Ödnis ortsfremd waren. Schnee blieb aus. Bäche versiegten.
Sorgenvoll untersuchten die Mamos, wo das Gleichgewicht gestört sein könnte. Hatte jemand einen heimtückischen Gedanken geheim gehalten? War jede Ernte, jedes Wasser dem Gesetz gemäß bezahlt worden? So sehr sie suchten, sie konnten unter sich keinen Fehl finden. Der Grund musste woanders liegen.
Aus allen Sippen der Sierra kamen die höchsten Mamos zusammen; Eingeweihten an der Kruste aus Kokaspeichel erkennbar, die als Wulst den Hälsen ihrer poporos aufsaß: geschriebene Gedanken der weisen Männer.
Sie beschlossen, angesichts der drohenden Gefahr müssten Arhuaco, Wiwa und Kogui gemeinsam handeln. Die pagamentos seien zu vervielfachen. Auch sei klärender Kontakt mit den Kleinen Brüdern zu suchen.

Man schuf eine Organisation, die Strukturen der Bonachi spiegelte: an der Spitze ein Anführer mit der Befugnis, im Namen aller zu sprechen, ihm beigestellt ein Rat. Man gab der Organisation nach dem höchsten und heiligsten Gipfel den Namen Gonawindua, verzeichnete nach Art der Bonachi das Datum der Gründung, 21. Januar 1987.
In den drei Jahren darauf schickten die Mamos Abordnungen nach Bogotá, Valledupar, Santa Marta. Emissäre erreichten eine Stadt namens Genf, um vor der Bonachi-Organisation Vereinte Nationen von den Sorgen in der Sierra zu sprechen.
Zum Entsetzen der Mamos erwirkten ihre Maßnahmen keine Änderung. Im Gegenteil. Im Páramo verdörrte die Erde. Schnee zog sich wie verschreckt zurück. Nach Bogotá entsandte Botschafter verschwanden auf dem Weg und wurden ermordet aufgefunden. Aluna brannte in Angst.

Die Mamos kamen erneut zusammen. Sie verordneten eine Revolution. Arhuaco, Wiwa und Kogui selbst müssten es in die Hand nehmen, die Kleinen Brüder zu lehren, im Gleichgewicht zu leben. Dazu brauche man Wege, die Kleine Brüder verstünden. Zeitungen. Filme. Bücher.
Nach Art der Kleinen Brüder schuf man in der Küstenstadt Santa Marta ein Büro. Zwei Zimmerchen im „Haus des Ureinwohners“, bestückt mit einem Flipchart, zwei Computern und einem Garderobenständer, den in Ermangelung von Jacken keiner nutzte. Hier sollte die Revolution stattfinden.
Im Jahr 2003 begann die Gruppe Zhigoneshi mit ihrer Arbeit. Fünf Jahre später fühlte sie sich endlich gewappnet, einen Film zu drehen.
Am Meer nahmen sie auf, wie Mamos sich angesichts der Brandung wie die Spindeln tanzend um die eigene Achse drehten, auf diese Weise nachahmend, wie sich Wirklichkeit aus aluna spinnt. In den Wäldern filmten sie, wie Mamos zu Stock und Stein sangen. Auf den Hängen, wie sie pagamentos bezahlten.
Dann reiste die Gruppe nach Bogotá, um dort die Suche Mamo Shibulatas nach den Gegenständen zu dokumentieren, die im Goldmuseum gefangen gehalten wurden.
Nun fehlte den Männern nur noch das Höchste und Heiligste, um den Film angemessen zu beenden – das Páramo.

Mamo Shibulata und seine Gefährten bestiegen zwei Geländewagen mit vertrauenswürdigen Fahrern und leistungsfähigen Musikanlagen und fuhren von Santa Marta aus südwärts. Eingelullt von schmachtenden Akkordeonklängen, erreichten sie Valledupar, die Hauptstadt des Departamento Cesar.
Von dort aus schnürte ein dünner Streifen brüchigen Asphalts die Südflanke der Sierra hinauf. Wie Leitersprossen staken Straßensperren der Armee im Weg, im willkürlichen Rhythmus ihrer Abfolge stieg der Rumpelpfad die Ausläufer der Berge empor.
Atanquez kam in Sicht. Die hier stationierte Nationalpolizei betonte ihren Willen, die Gemeinde zu bewachen, indem sie zwischen den Schaukeln und Wippen des Spielplatzes mit Sandsäcken bewehrte Schützengräben angelegt hatte.
Guatapurí wurde erreicht. Dieses Dorf war von Gebirgsjägern besetzt, da ab dort alle Wege auch Geländewagen nicht mehr zugänglich waren. Man sattelte auf Mulis um.
Es dunkelte, als die Karawane in Maruamaque anlangte, einem Weiler jenseits jeden militärischen Wertes. Hier lebten nur Kogui.

Die drei folgenden Tage nutzte Mamo Shibulata, um seine Begleiter mit der zähen Geduld eines Zuchtmeisters an die Schrittfolge wöhnen, die er in diesem Gelände für angebracht hielt. Weder versuchte er, dem Untergrund seinen Willen aufzuzwingen, noch ließ er sich von Felsvorsprüngen oder anderen Unwägbarkeiten des Weges zu einem ungleichmäßigen Gehrhythmus verleiten.
Morgens, wenn die Sonne die Gipfel der gegenüberliegenden Berge versengte, im Tal aber noch kalt der Tau lag, zog er los, um entlang kleiner Bachläufe essbare Blüten zu suchen, die der Raureif zur Leckerei gefroren hatte.

Dann setzte er sich an die Spitze des Zuges und ging den ganzen Tag voran. Nur gelegentlich unterbrach er seinen Lauf. Meist waren es Findlinge, deren Felsgestalt einem Gesicht oder anderen Menschenformen glich, an denen er innehielt. Er gab keine Erklärung.
Manchmal ließ er etwas zurück. Manchmal nahm er etwas mit. Er handelte mit dem Gleichgewicht. Abends, wenn die aufziehende Nacht alles Licht schluckte, saß er dann in einer der Lehmhütten eines auf keiner Karte verzeichneten Weilers und streckte wohlig seine blanken Sohlen in den Bannkreis des Herdfeuers. Seine zerklüftete Hornhaut hielt die Hitze zurück.
So zog Mamo Shibulata mit seinem Gefolge von Maruamaque, wo Mücken die Melodie der Tropen summten, hinauf in das Páramo, wo die Winde in klammer Kälte wehten.
Am dritten Tag erreichte er die Mutter Lagune.

Jetzt, endlich, ist Mamo Shibulata bereit. Jetzt wird er bezahlen. Eingekreist von seiner Eskorte tritt er ans Ufer. Der See gleißt im Gebirgslicht, Wasser wie aus der Sonne getropft. Ein Wind geht. Sie geben dem Mamo Geleit bis an einen flachen Fels, der einer Loge gleich über den See ragt.

Mamo Shibulata betritt den Stein so behutsam, als sei der ein schwankendes Boot. In seinen Tragebeuteln tastend, findet er Bündel aus Ästen und Flechten, außerdem Blättergarben, Schneckenhäuser, Fingerhüte aus Bast und Dutzende Muscheln. Er hat sie am Meer gesammelt. Er wiegt sie in der Hand, wie man ein kleines Kind wiegt, vorsichtig und voller Staunen über das Wunder, das sich da zeigt.
Dann bettet er Bündel für Bündel auf den Fels. Sein Gesicht zeigt keine Regung.

Sein Blick schweift. Er wählt sich einen Fels weiter oben, winkt sein Geleit hinauf. Sie legen ihm ein Mikrofon an. Sie richten die Kamera auf ihn. Seine Worte klingen rau.
„Mamo sagt: Kleine Brüder, hört genau. Wir werden lernen, was Mutter Lagune ist. Für uns ist Mutter Lagune das Herz, wie auch diese Gipfel das Herz sind. Sie lassen uns atmen. Sie geben uns Nahrung. Was geschieht, wenn ein Mensch kein Herz hat? Er stirbt. Heute sehe ich Dinge, die ich niemals sah. Der Schnee ist geflohen. Regen kommt in Farben. Ihr sprecht oft darüber, wie man die Welt um uns bewahrt. Aber ihr habt nichts davon verstanden. Ihr müsst verstehen. Ihr müsst lernen, was bewahren bedeutet. Ihr müsst euer Leben ändern.“
Mamo Shibulata verstummt.
Ohne ein weiteres Wort wendet er dem See den Rücken zu und geht. Er dreht sich nicht um. Er schaut nicht zurück. Er hat seinen Teil getan.

 

Foto: Stephen Ferry

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